Das Ich und das Wir und das Sie

Vor einigen Jahren war ich in China. Während dieser Reise musste ich einmal einen Inlandsflug nehmen und man ahnt es – der Flug hatte Verspätung. Zunächst noch eine halbe, dann eine und schließlich mehrere Stunden. Als sich am Gate endlich die Passagiere in einer Reihe aufstellten, um durch den Ausgang zu den dahinter wartenden Bussen zu gelangen, kam plötzlich eine Durchsage, allem Anschein nach keine Routinemäßige. Die Menschen vor und hinter mir in der Schlange begannen etwas unwillig zu raunen. Trotzdem konnten wir in den Bus steigen und losfahren. Wir wurden aber nicht, wie erwartet zur Maschine gebracht, sondern verließen den Flugplatz und fuhren eine einsame Landstraße entlang, bis wir vor einem leerstehenden Hotel ankamen, bei dem gerade einige Renovierungsarbeiten durchgeführt wurden. Wir stiegen aus und ich fand mich bald darauf in einem schäbigen Zimmer ohne WLAN wieder. Ohne Information darüber, wie lange ich hier bleiben würde müssen, ob ich vielleicht sogar hier übernachten würde und was mit meinem Gepäck war, hielt ich es nicht lange im Zimmer aus und ging hinunter in die Lobby. Es war niemand von der Fluggesellschaft zu sehen und die wenigen Angestellten des Hotels machten mir schnell klar, dass sie kein Englisch konnten. In dieser Situation tat ich etwas Seltsames und doch sehr Logisches: ich stellte mich zu einer Gruppe Chinesen, die eifrig miteinander diskutierten und gestikulierten und obwohl ich kein Wort verstand und man mich kaum beachtete, flaute sofort jenes quälende Gefühl, das mich zu diesem Verhalten gebracht hatte, ab: das Gefühl der Einsamkeit und Verlorenheit.

Diese Erfahrung zeigt deutlich, wie sehr der Wunsch nach Zugehörigkeit zu einer Gruppe, das Gefühl, nicht allein zu sein und sich dadurch sicherer zu fühlen, eine menschliche Grundkonstante ist. Und tatsächlich ist jeder und jede von uns im Laufe seines beziehungsweise ihres Lebens Mitglied einer beachtlichen Anzahl von Gruppen. In manchen davon sind wir, weil wir uns angemeldet haben oder in diese eingeteilt wurden, wie Vereine oder Schulklassen. Man nennt sie formelle Gruppen. Andere wiederum – informelle Gruppen – haben sich irgendwann gebildet und wir sind aus Interesse oder durch Freunde dazu gekommen: der Stammtisch im Wirtshaus oder der Freundeskreis, mit dem man ausgeht. Wir sind in großen Gruppen, wie Schulen oder Arbeitsstätten, in denen wir nicht alle Mitglieder beim Namen kennen und wir sind in kleinen Gruppen, in denen der Austausch intensiv und häufig ist. Manche Gruppen sind so groß, dass wir gar nicht wissen, wer aller dazu gehört und der einzige Grund, warum wir sie als „unsere“ Gruppe bezeichnen, ist die Tatsache, dass wir uns mit ihnen identifiziert haben. Oft reicht ein einzelnes Merkmal, um uns zu einer solchen „ingroup“ zugehörig zu fühlen und es ist meistens die Abgrenzung zu anderen, also zur „outgroup“, die uns so richtig zusammenschweißt. Dabei überschätzen wir oft unsere Gemeinsamkeiten und die Unterschiede zu „den anderen“. Ohne es seltsam zu finden, meinen wir Tiroler vielleicht manchmal, dass die Unterschiede zu den Wienern unglaublich groß sind, als Österreicher sind wir uns aber alle sehr ähnlich. Gleichzeitig sind wir überzeugt, dass die Untertinntaler so ganz anders sind als die Oberinntaler oder Außerferner.

Die Unterschiedlichkeit zu Anderen ist nicht das Einzige, was einer Gruppe Stabilität und Halt gibt. Gemeinsame Werte, Ziele oder Aufgaben sind ein wichtiger Faktor für das Gruppengefühl und schaffen eine Verbindung zwischen ihren Mitgliedern. Im Modell des amerikanischen Psychologen Bruce Tuckman wird beschrieben, wie Gruppen in der Phase des Normings ihre gemeinsame Basis finden, nachdem sie sich in den vorhergehenden Phasen des Formings und Stormings zusammengefunden beziehungsweise zusammengerauft haben und bevor sie im Performing dann in die produktive Zusammenarbeit gehen. Wenn dies vor allem für Teams in der Arbeitswelt untersucht wurde, kann man doch auch vergleichbare Phasen in anderen Gruppen beobachten.

Die Stabilität von Gruppen wird darüber hinaus auch von den Hierarchien beeinflusst, die in ihrem Inneren existieren. Modelle, wie das Soziogramm von Moede, das die inneren Strukturen einer Gruppe graphisch sichtbar macht und Stars, Cliquen, Außenseiter und Sündenböcke zeigt oder die Gruppenrollen von Alpha, Beta und Omega, die den Rang und die Aufgaben innerhalb einer Gruppe beschreiben, werden gerne und oft im Consulting, Coaching oder der Wirtschaftspsychologie angewendet. Andere Ansätze untersuchen kritisch die Unterschiede zwischen männlichen und weiblichen Hierarchien innerhalb von sozialen Kollektiven und bringen interessante neue Blickwinkel in die Diskussion ein.

Psychologen haben uns allerdings auch eindrucksvoll aufgezeigt, welche Dynamiken in Gruppen passieren. So konnte Solomon Asch in seinem berühmten Experiment zur Konformität nachweisen, dass Menschen bereit sind, ihre eigene Meinung der Gruppenmeinung anzupassen. Dazu bat er eine Gruppe von Versuchspersonen, aus drei Linien diejenige auszuwählen, die die gleiche Länge hatte, wie eine gezeigte Vergleichslinie. Um den Konformitätsdruck aufzubauen, befand sich in jeder Gruppe nur eine echte Versuchsperson, alle anderen waren Mitarbeiter von Asch und gaben eine bewusst falsche Zuordnung an. Die Versuchspersonen ließen sich nicht immer, aber doch zu einem beträchtlichen Ausmaß von der falschen Gruppenmeinung überzeugen, auch wenn diese in manchen Fällen deutlich erkennbar falsch war.
Andere Experimente konnten nachweisen, dass sich Meinungen durch die Bestätigung in gleichgesinnten Gruppen polarisieren können, so dass nach einer gewissen Zeit die Meinung der Gruppe insgesamt extremer geworden ist, als es die Einzelmeinungen zu Beginn des Prozesses waren. Shitstorms im Internet oder die sich radikalisierende Stimmung bei manchen Demonstrationen sind dafür eindrückliche Beispiele.

Nicht immer müssen aber Gruppenprozesse negative Auswirkungen haben. Dass das Zusammenarbeiten in vielen Bereichen effektiver funktioniert als ein Nebeneinander von Einzelkämpfern, dass manche Aufgaben überhaupt nur in der Gruppe gelöst werden können und dass der gemeinsame Erfolg eine für die Psyche enorm wichtige Energie erzeugen kann, zeigt wie unverzichtbar Gruppen für uns Menschen sind.

Wenn uns die Mechanismen und Prozesse in Gruppen bewusst sind, sind wir in der Lage, sie für uns positiv zu nutzen und den negativen Auswüchsen, seien es Stereotypisierungen, Vorurteile oder radikale Tendenzen entgegenzuwirken.


Bernd Ziermann, unterrichtet Französisch sowie Psychologie/Philosophie am Paulinum

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