Nun sag’, wie hast du’s mit der Migration?

Denkt man an Migration, so kommen einem schnell die medial eindrücklichen Bilder aus den Jahren 2015/2016 in den Sinn: mit überfüllten Booten, Grenzübergängen und Erstaufnahmestellen – die es natürlich auch aktuell gibt, nur ist der starke mediale Fokus darauf nicht gegeben; oder auch die im Laufe des heurigen Jahres aus der Ukraine vertriebenen Menschen. Doch Migration ist viel mehr, letztlich jede Art von Wanderungsbewegung, insbesondere, wenn sie über nationale Grenzen hinweg geht, aber es gibt sie auch als Binnenmigration innerhalb der Grenzen eines Landes. Migration gab es immer und wird es wohl auch immer geben. Sie ist ein politisches Reizwort, tagespolitische Gefechte der heftigsten Art spielen sich oft gerade in Bezug auf dieses Thema ab. Doch es gibt auch einen Blick auf die Migration, der weniger von tagespolitischen Interessen geprägt ist und mit dem Anspruch auftritt, das Phänomen wissenschaftlich-normativ zu analysieren: die Migrationsethik. Man hört von ihr selten, allein die Frage danach, was in Fragen der Migration „das Richtige“ sein könnte, ist in der öffentlichen Diskussion leider selten ehrlich von Interesse. Dieser Umstand darf zum Anlass genommen werden, um anhand zweier prominenter Ansätze abrisshaft darzustellen, wie Migrationsethik arbeitet und dass philosophisches Argumentieren auch gefragt ist, wenn es um Grenzen und Migration geht.
Ausgangspunkt von Walzers Überlegungen (Michael Walzer, Mitgliedschaft und Zugehörigkeit, in: Sphären der Gerechtigkeit. Ein Plädoyer für Pluralität und Gleichheit) ist die Annahme, dass das „erste und wichtigste Gut“ für den Menschen die „Mitgliedschaft in einer menschlichen Gemeinschaft“ ist. Bürger eines Landes haben eine solche Mitgliedschaft, der Staat, in dem sie leben, stellt eine solche Gemeinschaft dar. Für Walzer ist die Tatsache, dass es solche Gemeinschaften faktisch bereits auf der Welt gibt, die Grundlage jeder weiteren Erwägung. Ausgehend von diesem Faktum kann auch nur die jeweilige Gemeinschaft Träger der Entscheidung sein, wer dieser Gemeinschaft beitreten darf und wer nicht – was im Wesentlichen in Form von Gesetzen über Einwanderung und Staatsbürgerschaft auch gelebte Praxis ist. Doch ist diese Entscheidung keine bloß beliebige. Sie unterliegt ihrerseits wieder Verpflichtungen. Es herrscht eine unabhängig von der jeweiligen Gemeinschaft universal anerkannte wechselseitige Hilfeleistungspflicht, die aber aktive Hilfe nur so weit abverlangt, als damit verbundene Aufwände und Gefahren „relativ gering“ sind. Und in der Tat wird ein solches Prinzip einen universalen Geltungsanspruch haben, allerdings ist es zugleich sehr schwammig; „relativ gering“ ist ein mehr als vager Begriff. Eine Gefahr sieht Walzer bei der hypothetischen Annahme einer völlig unreglementierten Zuwanderung darin, dass damit gerade jene Geschlossenheit, die Gemeinschaften ausmacht, verlorengeht – „fehlt diese, ist mit jener als einem stabilen Merkmal menschlichen Lebens nicht zu rechnen“, so Walzer wörtlich. Aufgrund dieser besonderen Bedeutung der Geschlossenheit lassen sich für Walzer Staaten mit Vereinen vergleichen: Der Eintritt ist reglementiert, der Austritt frei. Für Walzer steht sohin jedenfalls fest, dass Staaten grundsätzlich das Recht haben, Zuwanderung zu reglementieren, wenn auch die Entscheidung darüber, wer eingelassen wird, ihrerseits moralischen Bindungen unterliegt. Flüchtlinge – das sind für ihn jene Menschen, deren Probleme im Herkunftsstaat man nicht durch bloße finanzielle Mittel lösen kann – beurteilt Walzer in folgender Weise: Sie müssen dem Prinzip der wechselseitigen Hilfeleistung folgend aufgenommen werden. Wenn es zu viele sind, so anerkennt er als Kriterium der Bevorzugung die nähere Verwandtschaft zur eigenen Lebensweise. Zusammenfassend bleibt für Walzer das staatliche Recht Grenzen zu ziehen und zu schließen im Vordergrund. Nur in einer Situation der persönlichen Verfolgung der Personen, ist Hilfe durch Einreisemöglichkeit geboten, wenn auch dies keineswegs unbeschränkt.
Völlig anders nähert sich Carens (Joseph H. Carens, Ein Plädoyer für offene Grenzen) der Thematik: Er sieht offene Grenzen als moralisches Gebot, wer sich für Beschränkungen ausspricht, hat das Argument zu liefern. Zum einen sind geschlossene Grenzen ein Affront gegen die Annahme, dass alle Menschen den gleichen moralischen Wert haben. Geschlossene Grenzen werden von Carens als neue Form des Feudalismus gesehen, bei dem der Zufall der Geburt in einem gewissen Staat das eigene Leben und die eigenen Möglichkeiten vorherbestimmen, ohne dass es – abgesehen von vereinzelten Ausnahmen – für die breite Masse die Möglichkeit gäbe, in den „höheren Stand“ der sogenannten Ersten Welt aufzusteigen. Neben diesem gleichheitsbasierten Argument für offene Grenzen entwickelt Carens ein sogenanntes Kragträger-Argument für offene Grenzen basierend auf dem Menschenrecht auf Freizügigkeit. Ein Kragträgerargument funktioniert über Analogie. Vereinfacht gesagt: Wenn man die Norm N für einen Bereich X akzeptiert, so ist für einen analogen Bereich Y anzunehmen, dass N auch dort gilt bzw, liegt es an demjenigen, der das nicht so sieht, das Argument zu führen. Konkret angewendet: Das Recht auf Freizügigkeit, d.h. sich im Wesentlichen frei bewegen zu können, ist innerhalb der nationalen Grenzen ein umfassend anerkanntes Menschenrecht, es wird fast ohne Ausnahme als moralisch geboten gesehen und ist auch völkerrechtlich verankert und die entsprechende Verträge wurden von sehr vielen Staaten unterzeichnet. Wenn man aber die Freizügigkeit innerhalb von Staaten als ein der Freiheit des Menschen entspringendes Menschenrecht sieht, was rechtfertigt die Annahme, dass dies über nationale Grenzen hinweg nicht gelten soll? Carens setzt sich im Folgenden detailliert einerseits damit auseinander, warum innerstaatliche Freizügigkeit ein Menschenrecht darstellt, und andererseits damit, warum das per Kragträgerargument auch für zwischenstaatliche Freizügigkeit zu gelten habe. Ohne dies hier mit Blick auf den beschränkten Raum im Detail darstellen zu können, lässt sich zusammenfassend sagen, dass Carens sämtliche Einwände, die er analysiert, letztlich entkräftet und zum Resultat gelangt, dass offene Grenzen nicht nur als Resultat menschlicher Gleichheit, sondern auch als Resultat menschlicher Freizügigkeit moralisch geboten sind. Der Vollständigkeit halber sei noch angemerkt, dass auch Carens trotz des grundsätzlichen Gebots offener Grenzen Abstufungen kennt, wie es auch bei der medizinischen Notversorgung, auf die alle Menschen ein Recht haben, in Krisensituationen eine Triage geben kann.
An diesen beiden exemplarischen überblicksmäßigen Darstellungen lässt sich ersehen, wie unterschiedlich der Umgang mit dem Phänomen der Grenze und der Migration in der normativen Ethik ausfällt und dass sich auch in der akademischen Philosophie offensichtlich keine so klare Antwort auf die Frage nach dem richtigen Umgang mit diesen Fragen gibt. Entscheidend und jedenfalls beachtenswert ist meines Erachtens, dass Grenzen letztlich eine menschliche Setzung sind, die einer wie auch immer gearteten Rechtfertigung bedarf und nicht unhinterfragt zum Ausgangspunkt weiterer Argumente und Handlungsdirektiven gemacht werden kann. Es ist jedoch auch unfraglich, dass innerhalb von staatlichen Grenzen gelebtes Gemeinschaftsleben einen hohen Wert hat, den man in der Überlegungen zu offenen Grenzen in der Argumentation keineswegs außen vor lassen sollte.
Wenn bei jemand das Interesse am Thema geweckt ist, so darf die Textsammlung, herausgegeben von Frank Dietrich, Ethik der Migration empfohlen werden, aus dem der Autor die Textgrundlagen für diesen Beitrag bezog.


Markus Anker (MJ 2014)

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