Musiker sein ist ein Beruf wie kein zweiter

Etwas mehr als acht Jahre nach meiner Matura spielte ich an vier aufeinanderfolgenden Abenden gediegenen Jazz-Pop in der Royal Albert Hall London; ich war unmittelbar nach meinen College-Abschlüssen in Liverpool und Manchester als Session-Bassist bei Universal UK unter Vertrag genommen worden und deshalb u.a. mit einer talentierten Songwriterin namens Amy im UK und den USA unterwegs, um ihre Songs und mittelfristig ihre Karriere zu promoten. Klingt sicher gut, aber das eigentlich Erwähnenswerte ereignete sich am ersten Tag nach diesen prestigeträchtigen Auftritten.

Mein Trio 7 Foot (Randall Breneman, USA, Gesang & Gitarre, sowie Adam Skinner, UK, Schlagzeug – die Herren kennt man in Schwaz durch einen legendären Auftritt am Grafenast) wurde wegen eines schwelenden Konflikts mitten im Auftritt in der Pause aus dem King’s Head Pub an der Upper Street, Islington, London geworfen. Mein Gitarrist hatte die Warnungen des chronisch grantelnden Besitzers Dan Crawford ignoriert und immer dann, wenn jener am Tresen mit seiner Klientel beschäftigt war, heimlich seinen Verstärker aufgedreht – immer nur so viel, dass man von Mal zu Mal zwar wohl kaum einen Unterschied bemerkte, jedoch kumulativ zu beobachten war, wie sich nach einer gewissen Zeitspanne sowohl die Anzahl der schmerzverzerrten Gesichter im Publikum als auch deren physischer Abstand zu uns vergrößerte. Freilich, es gab auch evidente Zustimmung an unserem bunten Treiben: die üblichen Verdächtigen – man kannte sich aus der ersten Reihe –, welche mit Mr. Crawfords Einwänden nichts anfangen konnten und ihren Kopf demonstrativ gegen Randalls krachenden Amp hielten, oder sogar solche, die sich zur Praktik des stage diving (normalerweise ein Sprung in zusammengepferchtes Publikum von einer Bühne) hinreißen ließen. Ich erinnere mich zudem vage an Liegestütz, headbanging, kläffende Hunde, tränenüberströmte Gesichter (je nach Chemikalie an verschiedenen Orten des emotionalen Spektrums einzuordnen), sowie an das verdutzte Gesicht des Taxifahrers, welcher früher als beidseitig erwartet unseren Krempel vom Ort des Geschehens wieder in seinen Vauxhall hatchback hievte. Musiker zu sein ist kein Beruf wie andere: Damit meine ich die enorme soziale Spannweite, welche sich aus der Gesamtheit aller Kontraste innerhalb dieser Berufung – den Unterschied akzentuiere ich bewusst – ergibt. Ob man für englische Premierminister spielt, mit Stars aus Pop, Klassik, Jazz oder Volksmusik auf der Bühne steht oder ob man mit dem stolzen Bergbauern, der in Göriach seinen unnachahmbar deftigen Käse produziert, die improvisierte Bühne im Stall besichtigt: Musik ist immer ein Ort der Begegnung, mehr noch ein inklusiver Ort, der nicht im Vakuum existieren kann, mit Recht auf Teilhabe für alle. Musik erfüllt für mich eine soziale Aufgabe. Musik kann und darf das ansprechen, was auszusprechen unmöglich scheint. Von den vielen Kommentaren, welche man über unsere Zunft neulich unter den aktuellen Gegebenheiten zu lesen bekam, ist mir vor allem einer geblieben – hier muss ich aufgrund Quellenmangels paraphrasieren: „Es ist nicht so, dass wir ohne Musik nicht leben könnten, sondern dass wir ohne sie nicht überleben würden.“ Geben wir also auf die Musik acht und pflegen wir sie bewusst. Gehen wir, sobald möglich, wieder raus und lassen wir uns nicht nur auf die gehörte Musik, sondern auch die erlebte Musik ein: wie sie uns und die Menschen um uns berührt, verärgert, stutzig macht, begeistert. Denn sie würde uns fehlen, so wie uns zwischenmenschliche Begegnungen fehlen würden.


Philipp Moll, MJ 1997
www.philippmoll.com

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