Über das antike Theater in Griechenland

Schau, schau am Schauplatz! Es begab sich in jenen Tagen – und wie so oft in jenen Tagen des antiken Griechenlandes begab es sich in Athen. Es war nicht nötig, Eulen dorthin zu tragen, zuhauf nisteten sie bereits in den Höhlungen des Akropolisfelsen. Sie wurden dort Zeugen der sich alljährlich im Mai an der Hochstadt vorbeiwälzenden Menschenmassen, die hier einen Umzug veranstalteten und die „großen Dionysien“, ein ausgelassenes Frühlingsfest zu Ehren des Fruchtbarkeitsgottes Dionysos (lat. Bacchus), begingen. Es wurde getrunken, getanzt, gesungen, gelacht. Und laut. Irgendwann einmal begann ein besonders ausgelassener Sänger sich nicht dem Chor anzuschließen, sondern sich ihm gegenüberzustellen, es muss so etwas wie „call and response“ gewesen sein. Interessant, dass man die „Rolle“ dieses Alleingängers dann institutionalisierte und ihn Hypokrites (ὑποκριτής = Antworter) nannte. Interessant auch, dass dieses Wort in der englischen und französischen Sprache noch existiert (hypocrite = jemand, der sich verstellt; ein Heuchler) und zeigt, dass damit der erste Schauspieler „erfunden“ wurde.

Man ließ sich später regelmäßig nach der Dionysosprozession am Südostabhang der Akropolis nieder, schaute hinunter auf die Ebene mit den singenden Tänzern und das kleine aus Brettern zusammengezimmerte Gestell dahinter, auf welcher der Antworter (ὑποκριτής) bzw. schon der Protagonist (πρωταγωνιστής = erster Schauspieler) stand, und schließlich ließ man den Blick über die Weite der schönen attischen Küste streifen. Damit ist alles gesagt, was man über die dreigeteilte Architektur eines griechischen Theaters von der Schwarzmeerküste im Osten, über die Westtürkei und Zentralgriechenland bis Sizilien in der Magna Graecia (Großgriechenland in Unteritalien) wissen muss. Sitzreihen auf einer natürlichen Anhöhe geben den Blick frei auf einen landschaftlich wunderschönen Hintergrund (anders die Römer: Sie mauern die Sitzreihen irgendwo auf und „knallen“ ihre Theater unbarmherzig mit geschlossener Rückwand sogar in die ebene Wüste). Schau, schau! Dieses Halbrund mit den Sitzreihen ist das Programmatische und Wichtigste des Ganzen, das ist das wahre „Theater“ (θέατρον = Schauplatz; von θεάομαι = schauen). Da kann los sein, was will: Ohne Zuseher gibt es kein Theater, das ist auch heute noch so. Am Fuße des Theatron befindet sich die kreisrunde Orchestra (ὀρχήστρα = Tanzplatz), hier wird getanzt und gesungen. Diese Bedeutung schwindet zusehends, es bleibt die Bedeutung „Platz vor der Bühne“. Unser Orchestergraben ist der Platz vor der Bühne für das Orchester, das Orchester nun eine Gruppe von Musikern. Die singenden Tänzer nennt man auch „Choreuten“, der „Chor“ (χορός) ist eigentlich „der Tanz“ (vgl. unser Choreograph, der Tänze einstudiert), erst später wird die musikalische Komponente betont. Die theatralischen Anfänge waren wohl recht primitiv: Man saß erst auf dem Grasboden, dann auf Holzbrettern. Steintheater kamen später. Der Tanzplatz war gestampfte Erde, und um den armen Protagonisten vor der mitleidlosen griechischen Sonne zu schützen, stellte man ihm auf seiner Bretterbühne ein Zelt auf (σκηνή = Zelt), die „Szene“ war erfunden. Gespielt wurde dann vor der σκηνή, auf dem „Proskenion“ (προσκήνιον = Vorbühne).

Der Ort am Südostabhang der Akropolis, an dem alles begann, gilt als Geburtsstätte der griechischen Tragödie, trägt den Namen des Gottes und heißt „Dionysostheater“. Hier ist die Orchestra die Keimzelle des Theaters und ein Altar für Dionysos in der Mitte weist auf die kultischen Ursprünge des Ganzen hin. Im Lauf der Zeit schwand die Bedeutung des Chores und das dramatische Spiel (δρᾶμα = Handlung) rückte mehr in den Mittelpunkt, aber lange blieb es bei nur einem Schauspieler, erst später kamen der zweite (δευτεραγωνιστής = Deuteragonist) und der dritte, der Tritagonist (τρίτος = der dritte) dazu. Mehr werden es nie sein, es sind nur Männer, sie sind allesamt namenlos, Starkult gibt es keinen. Man sieht die Gesichter der Akteure nicht, sie spielen verschiedene Rollen mit verschiedenen Masken. Maske bedeutet „Prosopon“ (πρόσωπον), das ist das, was man sehen kann, und von diesem Wort leitet sich vermutlich unsere „Person“ ab – jede Person eine Maske…

Oft wird vom agonalen (ἀγών = Wettkampf) Charakter der alten Griechen gesprochen. Schon Homer lässt als Programm verkünden, es sei das Wichtigste, immer der Beste zu sein und den anderen überlegen. Das Vorbild Odysseus ist der Allerschlaueste, und bei ihren Sportwettkämpfen suchten die Griechen  ja schließlich  auch den Stärksten, Schnellsten und Geschicktesten. Es nimmt also nicht Wunder, dass im Dionysostheater auch Wettkämpfe für Tragödien veranstaltet wurden. Was auf den ersten Blick seltsam erscheinen mag, ist es nicht: Man denke nur an Leone d´Oro, Palme d´or, Goldener Bär und Oscar.

Eine Tragödie ist es mit dem Wort „Tragödie“, von dem man eigentlich nicht weiß, was es wirklich bedeutet, da die wörtliche Übersetzung „Bocksgesang“ (τράγος = Bock, ᾠδή = Gesang) doch einigen Interpretationsspielraum zulässt. Am ehesten neigt man heute zur Auffassung, dass die singenden Tänzer zottelige Ziegenfellkostüme trugen und herumsprangen wie die Böcke. Unser Synonym „Trauerspiel“ wird der antiken Tragödie eigentlich nicht ganz gerecht. Sie zeigt immer einen Umschwung des Schicksals, meistens schon vom hohen Glück ins tiefe Unglück – aber manchmal eben nicht. Εs gibt umgekehrt, nach einer schwierigen Ausgangssituation auch ein happy end. Oft verkündet ein Gott (auf einer Art Kran über die Bühne geschwenkt) den glücklichen Handlungsausgang. Er erscheint so überraschend wie der sprichwörtliche „deus ex machina“ (lat. Gott aus der Theatermaschine) und führt alles einem positiven Ende zu.

Einer der ersten bekannten Tragiker Athens im 6. Jh. war Thespis, er soll mit einem Wagen voller Theaterutensilien herumgezogen sein, dem Thespiskarren. Namentlich fassbar ist später Phrynichos, der mit seine „Eroberung Milets“  für einen handfesten Skandal sorgte. Er präsentierte die totale Zerstörung der reichen griechischen Stadt Milet durch persische Truppen so realistisch, dass aufgrund von Jammern und Wehklagen des gesamten Publikums der Dichter (= Regisseur) zu einer Geldstrafe verurteilt wurde. Außerdem führte man für längere Zeit eine Zensur ein: bloß nichts Geschichtliches mehr auf die Bühne!

Es gab in Athen sehr viele Tragödiendichter, am bekanntesten ist aber bereits seit der Antike das „tragische Dreigestirn“, bestehend aus Aischylos, Sophokles und Euripides. Sie traten beim tragischen Agon, dem Tragödienwettstreit, gegeneinander an. Gezeigt wurden bei den großen Dionysien an drei aufeinanderfolgenden Tagen von jedem Autor jeweils drei Tragödien und schließlich zur Entspannung ein „Satyrspiel“. Satyrn (Σάτυροι) sind Walddämonen, Begleiter des Dionysos und haben eine ausgesprochene Schwäche für sinnliche Genüsse… jetzt darf endlich gelacht werden. Die Kombination aus drei Tragödien und einem Satyrspiel eines Dichters nennt man Tetralogie (τέτταρα = vier), die von drei inhaltlich zusammengehörenden Tragödien eine Trilogie (τρι-λογία). Nur eine einzige Trilogie ist uns erhalten, die „Orestie“ des Aischylos (er ist der älteste der drei Tragiker). Mit ihr errang er den Sieg im Agon. Behandelt wird die schreckliche Familiengeschichte der Atriden: Betrug, Ehebruch, Gattenmord, Muttermord, von Generation zu Generation fließt Blut, wohin man schaut (die Person der Elektra, die ihren Bruder zum Rachemord an der Mutter anstiftet, spielt in dieser Geschichte eine so wichtige Rolle, dass auch die beiden anderen Tragiker ihr jeweils eine eigene Tragödie widmen). Das letzte der drei Stücke findet durch Athene als „dea ex machina“ ein sehr versöhnliches Ende. Mit ihrer entscheidenden Stimme bewirkt sie einen Freispruch für den Muttermörder Orestes und beendet so den Geschlechterfluch. Bei Aischylos sind bereits zwei Schauspieler auf der Bühne, jedoch sind die Chorpassagen, in denen dieser die Handlung kommentiert, noch sehr zentral

Das Dramatische rückt Sophokles, der mittlere der drei Tragiker, mehr in den Vordergrund (nun ist auch der dritte Schauspieler da) und bringt mit „Antigone“ und „König Ödipus“ zwei der wohl bekanntesten Figuren auf die Bühnen der Welt. Erstere kämpft für das göttliche Recht gegen den Staat, vernichtet so sich und bringt Unglück über die Ihren. Letzterer versucht wie nur irgend möglich das ihm prophezeite Unglück zu vermeiden – und führt es genau dadurch herbei. Darauf recherchiert er hartnäckig gegen einen Mörder (und Mutterschänder): Er findet ihn, er ist es selbst. Der große König, der für sein Schicksal blind war, blendet sich und sieht nun alles ganz genau. Als Blinder bittet er darum, in die Verbannung gehen zu dürfen. Das folgende Stück „Ödipus auf Kolonos“ ist ein Erlösungsdrama. Der blinde König wird von seinen Töchtern nach Kolonos (bei Athen) begleitet, wo sich der heilige Hain der Eumeniden befindet. Diese – eigentlich Rachegöttinnen – entsühnen den unschuldig Schuldigen und Ödipus wird entrückt. In den „Trachinierinnen“ (die Frauen aus Trachis stellen den Chor, oft gib der Chor dem Stück seinen Namen) sieht man, dass auch ein Held sterben kann. Herakles zieht das mit dem Blut des toten Kentauren Nessos getränkte Hemd an, das ihm seine Frau geschickt hat, um die gemeinsame Liebe zu festigen; diesen Liebeszauber hatte ihr der von Herakles erschlagene Kentaure im Tode versprochen. Eine Lüge, seine Rache. Das Blut war vergiftet und das „Säurehemd“ des Nessos verbrennt Herakles bei lebendigem Leib. Unter Höllenqualen lässt sich der Held verbrennen. Seine Frau bringt sich um. Drama, Drama.

Der jüngste Tragiker, Euripides, gilt als Freund der psychologischen Charakterzeichnung und Frauenversteher. Vermutlich deshalb war er weniger beliebt und errang auch weniger Siege im tragischen Agon. Er inszeniert Alkestis, Andromache, Elektra, Hekabe, Helena und Medea. Und Iphigenie. Zweimal gut endet die Geschichte mit ihr. Als der grimmige Agamemnon aus Staatsräson gerade dabei ist, seine Tochter zu opfern, wird diese von Artemis gerettet und von Aulis (Griechenland) zu den Taurern (Krim) geflogen. Dort erlebt sie Grauenvolles, wird aber schließlich von ihrem Bruder in die Heimat gebracht. Dieser übernimmt die Herrschaft und Iphigenie wird Artemispriesterin – happy end. Ganz anders die grauenhafte Geschichte von Medea. Die mysteriöse Zauberin vom Schwarzen Meer begeht Verrat an ihrer Familie, tötet ihren eigenen Bruder  und verlässt die Heimat mit ihrem Geliebten Jason, der mit ihr zwei Kinder zeugt und ihr ewige Treue schwört. Als Medea später in Korinth von Jason betrogen wird, vergiftet sie dessen Geliebte, tötet (um Jason zu schaden!) unter Schmerzen die eigenen kleinen Kinder und entflieht auf einem Drachenwagen – tragisch!  Eine im Gegenteil untragisch endende Tragödie ist „Alkestis“: Ihr Mann Admet bekommt von Apollon einen Aufschub seines Todeszeitpunkts geschenkt, wenn jemand bereit ist, an seiner statt zu sterben. Trotz umfangreicher Suche findet er niemanden – nur seine Frau Alkestis geht für ihn in den Tod. Weil sie ihn so liebt. Herakles, deus ex machina, richtet es wieder, er holt sie aus der Unterwelt und bringt sie wieder zu Admet – so schön!

Bereits in der Antike wurde die Stoffauswahl der Tragödien kritisiert. „Was soll das? Kein Dionysos in den Tragödien beim großen Dionysosfest? Das alles hat ja nichts mit Dionysos zu tun!“ („ὀυδὲν πρὸς τὸν Διόνυσον“).  Euripides hielt dagegen. Mit seinen „Bakchen“ präsentiert er Dionysos und dessen Anhänger in einem Stück, das man nie vergisst. Rausch, Wahnsinn, Ekstase und Gewalt überall: Dionysos (Βάκχιος = Bacchus) kehrt in Menschengestalt (der Fremde – ein junger Mann mit weiblichen Zügen und langem Haar. Er wird die Erde beben lassen!) nach Theben (sein Geburtsort) zurück. Er lässt alle Frauen in einen Wahn (μανία = Manie) verfallen und führt seine „Mänaden“ nun ins nahe Gebirge. Dort leben sie mit wilden Tieren, trinken Wein, der aus Felsen hervorquillt, betreiben Omophagie (ὠμοφάγος = rohes Fleisch verzehrend), um die Kraft der Tiere in sich aufzunehmen, und feiern Orgien (ὄργια = geheime Kulthandlung). Pentheus, der König Thebens, lässt den Fremden gefangen nehmen. Der ist ein Gott. Das muss böse enden. Tut es auch. Der verblendete König wird von Dionysos (er ist in seinem Erdbeben entkommen) angestachelt, neugierig gemacht und schließlich dazu gebracht, das seltsame Treiben der Frauen im Gebirge zu beobachten. Zu diesem Zweck besteigt er den Wipfel eines hohen Baumes – und wird dort von den Mänaden erblickt. Sie halten ihn für einen Berglöwen, entwurzeln den Baum (der fällt), ergreifen Pentheus, töten ihn und reißen ihm den Kopf ab. Seine eigene Mutter pflanzt in ihrem Wahnsinn das Haupt ihres Sohnes auf eine Speerspitze und zieht triumphierend in Theben ein. Der Fremde zeigt sich in seiner wahren Gestalt und übernimmt Theben. – Dionysos siegt immer!!!
Das Theater ist sein Kult. „Auf, tanzen wir für Bakchios!“


Erich Thummer

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