Die Sternstunde des Franz M. - Heiteres aus dem Leben eines Organisten

Wenn man jahrzehntelang als Pianist und Organist unterwegs ist, erlebt man manch Eigenartiges. Es ereignete sich im Stift Fiecht vor etlichen Jahren. Probe für die Messe von Robert Führer mit Kirchenchor, Orgel und Orchester. Ich versuche gerade, über abgestellte Thermoskannen und darübergelegte Mäntel den Dirigenten zu erblicken, und erkenne an seinem Gesichtsausdruck, dass er mit der Intonation einzelner Sänger/innen nicht mehr ganz zufrieden ist. In meinen bösen Gedanken versuche ich mir das Durchschnittsalter des Chores auszurechnen, dabei komme ich auf einen höheren Wert als bei der Geistlichkeit. Wie üblich probt der Chorleiter fast bis in die Messe hinein, ein Umstand, der mich jedes Mal fast zur Weißglut bringt. Endlich ist die Probe zu Ende und ich spüre, das „heimliche Gemach“ muss vorher unbedingt noch aufgesucht werden, denn Abt Anselm ist berühmt für seine endlosen Messfeiern. Nachdem ich zurückkomme, erschaudere ich. Alle Noten, die ich fein säuberlich geordnet hintereinander am Notenpult aufgebaut habe, liegen in einer raschelnden weißen Wolke auf dem Orgelpedal. Offensichtlich hat ein Chormitglied mit ähnlichen Plänen wie ich beim Zurücklaufen die Kurve geschnitten und die ganze Papierflut mit einem kurzen Wischer in den Orkus hinabgerissen. Aber damit noch nicht genug: Einer der weißhaarigen Kirchenchor-Zombies hat die Abkürzung über das Orgelpedal genommen. Ich versuche, aus dem Papiersalat die Einleitung und das Kyrie herauszuschälen, denn jeden Augenblick werden die Ministranten mit einem penetranten Bimmeln den Gottesdienst eröffnen. Dass eine Orgel für den Einzug auch noch registriert werden muss, scheint immer noch kaum jemand begriffen zu haben. Ich reiße an den Registerzügen wie ein Genervter, der eine Fliege verjagen will, da ertönt auch schon unter der Orgelempore das untrügliche Startsignal für die Messe. Ich haue in die Tasten und stelle zufrieden fest, dass ich Gott sei Dank in der Eile kein verstimmtes Register erwischt habe.

Die wohl lustigste und groteskeste Anekdote ereignete sich bei einer der Aufführungen des Musicals „Jesus Christ Superstar“. Die Apostel versammeln sich auf der Bühne für die wunderschöne Eröffnungsnummer „The Last Supper“. Der Dirigent blickt zufrieden grinsend zu mir herüber und stellt fest, dass ich „bereit“ signalisiere, ebenso wie alle anderen neun Bandmitglieder. Er beginnt zu dirigieren. Nach ein paar Takten der Einleitung werden seine Bewegungen plötzlich unruhiger, sie gleichen einem nervösen Fuchteln. Das Blut entweicht im Rekordtempo aus seinem Kopf, er wird blass, um nicht zu sagen käseweiß. Ein kurzer Blick auf die Bühne genügt. Es stehen nur elf Apostel im Halbkreis, Judas, der in Kürze sein Solo hat, fehlt! Verzweifelt blicke ich zum Schlagzeuger hinüber, der mir mit einer unmissverständlichen Körpersprache signalisiert: „Wir wiederholen!“ Offensichtlich hat er die Notbremse des Dirigenten vor mir im Augenwinkel gecheckt. Wir beginnen also ein zweites Mal mit dem Vorspiel, in der Hoffnung, Judas könnte inzwischen überrissen haben, dass der zweite Akt bereits begonnen hat. Doch als der Einsatz des besagten Apostels in unmittelbare Nähe rückt, steht immer noch kein Judas auf der Bühne. Jesus beginnt in seinem Gefühl zwischen Ohnmacht und Verzweiflung den Text abzuändern und singt: „Wo ist Judas? Holt ihn mir her!“ Offensichtlich zeigt die Methode Wirkung, denn hinter dem Bühnenvorhang stürmt ein kauendes Etwas hervor. Es ist Judas, der offensichtlich während seiner ausgiebigen Pausen-Jause den Auftritt im zweiten Akt komplett verschlafen hat. Ich blicke kurz ins Publikum, da sitzt doch glatt die Frau des Dirigenten in der zweiten Reihe mit hochrotem Kopf. Ich erkenne sofort, es zerreißt sie fast vor Lachen. Nachdem alle Ensemblemitglieder und Orchestermusiker ihre Lachmuskeln beruhigt haben, geht die Eröffnungsnummer einem friedlichen Ende entgegen. Doch alle wissen: Das Essen nach der Aufführung wird schon etwas entspannter gewesen sein.

Da ich Umblätterer grundsätzlich nicht ausstehen kann, weil ich mich von einer unmittelbar neben dem Klavier sitzenden Person zu sehr gestört und abgelenkt fühle, klebe ich mir die Notenblätter zu langen Fahnen, die ich dann mit einer mittlerweile perfekt ausgefeilten Technik vom Notenpult fege. Es war bei einem der besagten Einsätze. In der ersten Reihe sitzt ein gutmütig dreinblickender weißhaariger Herr, der meine Papierarbeit eine Zeit lang intensiv beobachtet hat. Urplötzlich steht er auf und beginnt sich trotz seiner sichtbaren Rückenprobleme zu bücken. Was macht denn der jetzt? Er sammelt die herumgeworfenen Blätter fein säuberlich ein und stellt sie mir zurück auf das Notenpult. Meine Gedanken gleichen einer Gedankenblase aus einem Rolf Kauka–Comic mit folgendem Inhalt: Messer, Maschinengewehr, Handgranate, Totenkopf, usw. Doch ich versuche mich zu beherrschen und schaue den freundlichen Herrn mit einer Mischung aus treuherzigem Dackelblick und tiefer Verzweiflung an, würge ein leises: „Danke, das brauche ich nicht mehr!“ hervor und schleudere das überflüssige Notenpaket neuerlich im Saal herum, in der Hoffnung, der treue Helfer hat kapiert.

Es hat sich auch als gute Übung herausgestellt, die Noten für den zweiten Akt vor dem Austreten mit einem Gegenstand zu beschweren, denn bei einer anderen Aufführung kam einer der Besucher auf die Idee, aufgrund einer mangelhaften Lüftung im Saal kurz vor Beginn noch einmal alle Fenster zu öffnen. Meine Rückkehr brauche ich, glaube ich, nicht mehr näher zu beschreiben. Das gesamte Notenmaterial flatterte durch den Saal, ich weiß bis heute nicht, wie ich es geschafft habe, alles noch rechtzeitig einzusammeln, zu ordnen und aufzubauen.

Was gibt es Schöneres als „Stille Nacht“ am Heiligen Abend. Ich sitze am Ende der Christmette an der Orgel. Wie es scheint, hat der Mesner etwas zu spät begriffen, dass es zur Steigerung der Weihnachtsromantik üblich ist, das Licht im Kirchenraum auszuschalten. Dabei bedenkt er aber nicht, dass er offensichtlich den falschen Schalter erwischt hat, denn auch bei mir auf der Orgelempore ist es urplötzlich stockfinster. Wie durch ein Wunder liegen meine Hände genau in diesem Moment auf der Tastatur und ich kann, da ich über einen exzellenten Tastsinn verfüge, das Stück zu Ende spielen. Auf meinen Protest nach der Mette hin entgegnet mir Abt Anselm nur lakonisch: „Das wird doch für einen Profi wie Sie kein Problem sein!“


Franz Moltrer, MJ 1978

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