Osteuropa

Nachdem ich das Studium der BWL in Innsbruck und meinen Zivildienst beim Roten Kreuz abgeschlossen hatte, ging es bereits Richtung Osten. Ich habe 1994 – jetzt würde man sagen – ein Start-up in Wien gegründet, was nach drei Jahren leider ziemlich schief ging, und ich habe anschließend bei einem Beratungsunternehmen gearbeitet.

Eher zufällig hat sich Ende 1999 die Möglichkeit ergeben, für die Bank Austria nach Rumänien zu gehen und den Bereich Operations/IT zu übernehmen. Meine Frau war damals gerade schwanger und wir dachten, dass wir die Karenzzeit nützen, um etwas Neues zu erleben. Es hat dann über 15 Jahre gedauert, bis wir unser Zelt im Sommer 2015 wieder in Wien aufgeschlagen haben.

Rumänien 2000 war ganz anders – das Land war noch sehr arm und es hat an grundlegenden Dingen gefehlt. Ich habe mich beispielsweise gewundert, warum unsere Mitarbeiter so spät am Abend erst nach Hause gehen – bis ich erfahren habe, dass unser Bürogebäude in der Grigore Mora am Abend geheizt wurde und die Wohnungen der Mitarbeiter kalt blieben.

Wir haben damals beinahe nur junge und unerfahrene Mitarbeiter rekrutiert, da es uns einfacher erschien, diese „auszubilden“, als zu versuchen, „älteren Managern“ das richtige „Mind Set“ zu vermitteln. Viele dieser Mitarbeiter haben sich toll entwickelt und tragen heute teilweise große Verantwortung in unterschiedlichsten Bereichen der Gesellschaft. Es gab und gibt in diesen Ländern unglaublich viele hochmotivierte Talente.

Es war sehr viel Armut zu sehen in 2000 – gerade bei älteren Menschen, Kindern und anderen benachteiligten Gruppen. Man kann sich nicht vorstellen, wie das Gesundheitswesen am Boden lag – in einem Krankenhaus waren die Hunde im Pflegebereich, man musste Geld geben, dass man zu Essen bekam oder das Bett gemacht wurde – über medizinische Ausstattung gar nicht zu sprechen. Wenn jemand krank wurde, dann hat man Geld gesammelt und von diesen paar Euro hing das Leben ab. Es gab natürlich auch eine private Klinik, wo der Standard besser war.

Wenn ich nun ab und zu in Bukarest bin und dies vergleiche – es mag noch sehr vieles zu verbessern sein: Aber ich hätte nie geglaubt, wie sehr sich etwas zum Guten wandeln kann innerhalb von 20 Jahren – und 20 Jahre ist ein relativ kurzer Zeitraum! Es erscheint mir unglaublich und ich bin unter anderem deshalb ein großer Anhänger des europäischen Gedankens.

In Rumänien haben wir nur ca. 1,5 Jahre gelebt, da mir eine neue interessante Aufgabe angeboten wurde: Für die Bank Austria eine Bank in Serbien aufzubauen. Ich erinnere mich noch sehr gut, als ich das erste Mal nach Serbien fuhr. Wir sind mit dem Flieger von Bukarest nach Timişoara geflogen und haben von dort mit einem Auto die Grenze überschritten. Die mediale Berichterstattung damals hat kein gutes Bild über die Serben gezeichnet, denn der Krieg war allgegenwärtig und Milosevic gerade nach Den Haag ausgeliefert.

Wir waren dann sehr von der Gastfreundschaft und Herzlichkeit der Serben überrascht. Wir haben in einem Haus mit dem Vermieter gewohnt – in Dedinje, einem Stadtteil Belgrads. Die Vermieter Zele und Mila wurden Großeltern meiner Kinder – meine Kinder konnten alle serbischen Kinderlieder singen.

In der Zeit in Serbien bis 2005 wurden dann noch Laurin und Wendelin geboren. Ich wurde in Serbien immer als reicher Mann bezeichnet – weil ich zwei Söhne hatte. Ich bin nach wie vor von Belgrad und den Menschen sehr begeistert – wir haben dort viele Freunde gewonnen. Es war auch lehrreich, sich mit dem Krieg auseinanderzusetzen, denn beinahe jeder war involviert und hat Schicksalsschläge abgekommen und auch verursacht. Dies ist der nächste Grund, weshalb ich ein glühender Europäer bin – was sich in einem Krieg abspielen kann, das kann sich meine Generation nicht vorstellen.

Wir haben damals eine Bank innerhalb von sechs Monaten gegründet, ich weiß noch genau, wie wir die ersten Mitarbeiter angestellt haben – zu den meisten habe ich immer noch Kontakt. Wir konnten das IT-System nicht in Belgrad aufsetzen, da die Datenleitungen noch nicht verfügbar waren. Deshalb haben wir das Team nach Budapest übersiedelt, um das System aufzusetzen und ich bin jeden zweiten Tag in der Nacht gependelt. War eine spannende Zeit – eine große Aufbruchsstimmung.

2005 bekam ich das Angebot, wieder nach Rumänien zurückzukehren, da die Bank Austria die Bank Tiriac gekauft hatte und ich den Merger verantworten durfte. Wir hatten eine gute Zeit in Rumänien und haben die Zeit genützt, das Land zu erkunden. Ich war nie von der Stadt Bukarest begeistert, aber das Land bietet eine unglaubliche Weite, Natur und schöne Städte – vom Donaudelta bis nach Temeschwar – dies war die erste Stadt in Europa, die elektrifiziert wurde. Wir haben die schönsten Feste in dieser Region gefeiert. Es ist unglaublich, wie die Menschen feiern und ausgelassen sein können – da könnten wir uns einiges abschauen.

2007 sind wir dann für die Bank Austria/Unicredit nach Russland übersiedelt. Wir haben drei Jahre in Moskau gelebt – eine unheimlich wertvolle Lebenserfahrung. Wir sind im September angekommen und es hat vom Flughafen bis zu unserer Unterkunft bereits geschneit. Als die Fahrt dann auch noch über vier Stunden gedauert hat, war die Stimmung meiner Frau und Kinder schon ziemlich angespannt.

Moskau ist eine unglaublich interessante und pulsierende Stadt, die aber viel Energie raubt. Als ich den CEO unserer Bank traf, ging er mit mir in ein russisches Lokal und hat mir gesagt: „Andreas, wenn du eine Aufgabe bekommst und sie erfüllst, aber vergisst, dies zu berichten, wirst du bestraft. Falls du die Aufgabe nicht schaffst, aber berichtest, dass du es geschafft hast – dann ist es okay. Falls du es schaffst und berichtest, dann ist es auch okay.“ Es liegt viel Wahrheit in diesen Sätzen. Es war eine spannende Zeit – ich war für die Restrukturierung der Bank verantwortlich – da konnte ich wiederum viel lernen.

Wir haben ein wenig außerhalb von Moskau im Compound Rosinka gelebt. Für unsere Kinder war es wie ein Paradies und ich habe es auch geliebt, mit so vielen Expats zu leben. Ich habe die holländische Community sehr geschätzt – die sind im Vergleich zu uns sehr weltoffen und sehen überall Chancen, auch wenn es mal schiefgeht. Vielleicht kommt dies noch aus ihrer Zeit der Seefahrer. Es ist schon interessant mit anderen Kulturen zusammenzuleben. Es relativiert sehr viel und man bekommt einen realistischeren Blick auf die eigene Kultur und worauf man stolz ist.

Zu Weihnachten 2009 hat mich ein Anruf der RBI erreicht, ob ich nicht in die Ukraine gehen und bei der Restrukturierung der dortigen Bank Aval mitanpacken möchte. Wir sind dann im September 2010 nach Kiew übersiedelt und bis Juni 2015 geblieben.

Es war die sicherlich spannendste Zeit – wir haben 2012 erlebt, wie durch die Fußball-Europameisterschaft das ganze Land elektrisiert wurde und wir am Maidan unglaubliche Feste gefeiert haben. Es war die „Fan-Mile“ voll von Ukrainern und internationalen Gästen – auch ich hatte viele Freunde auf Besuch.

Wir haben dann auch die Ausschreitungen und Toten am Maidan hautnah erlebt und den Krieg im Osten. Wenn am Maidan 10.000 Menschen sich von den aufgebahrten Toten verabschieden – solche Momente kann man nie mehr vergessen. Ich war für die Krim verantwortlich und habe damals den „Verkauf“ unserer Filialen an eine russische Bank verhandelt und es lief sehr gesittet ab. Ich war auch öfters in der Ostukraine und hier wurde alles im Krieg zerstört.

Es werden die einzelnen Schicksalsschläge bei all den politischen Analysen nicht beachtet. Es ist wirklich schlimm zu sehen, wie durch so einen Konflikt den Menschen „Normalität, Chancen und Zukunft“ weggenommen werden. Bis 2014 war ich immer im gesamten Land unterwegs und es gab keine Diskussion oder Anschein, ob jetzt jemand russisch oder ukrainisch ist – dies war kein Thema. Unfassbar, wie dies dann „über Nacht“ emotionalisiert wird und Gräben geschaffen werden, die es vorher nicht gab.

Wir mussten unsere Bank – mit über 10.000 Mitarbeitern und 700 Filialen durch diese Krise führen. Wir hatten viele Entscheidungen zu treffen, wo und wann zu evakuieren ist. Unsere Bank war ein wichtiger und sichtbarer Faktor in diesem Land und es war wichtig, dass unsere Bankomaten und der Zahlungsverkehr funktioniert haben. Es gab nicht nur im Osten der Ukraine den Versuch, Regionen zu destabilisieren – z.B. Mariupol war heiß umkämpft und wir wurden gebeten, unsere zwei Filialen dort nicht zu schließen und konnten in Krisenregionen nicht einfach „zusperren“, um auch unsere Mitarbeiter zu schützen. Oder als das Regionalparlament in Kherson von „grünen Männern“ besetzt wurde und wir dort ein Operations Center mit 700 Mitarbeitern hatten.

Als in einer Nacht die Schüsse in unserem Schlafzimmer immer lauter zu hören waren, bin ich mit meiner Familie um fünf Uhr früh zum Flughafen gefahren, um meine Familie nach Österreich zu schicken. Schon beim Rausfahren sahen wir, dass die Autobahn von Panzern gesperrt wird. Auf der Rückfahrt musste ich dann über Seitenwege fahren – einspurig im Wald und in einer Kolonne. Als diese dann bei Dunkelheit gestoppt hat, haben wir schon überlegt zu Fuß zur Stadt zurückzukommen. Es waren viele interessante Momente und Entscheidungen zu treffen. Die Menschen waren sehr dankbar, dass wir geblieben sind und die Bank immer funktioniert hat.

Die Ukraine ist ein Land mit einer sehr modern denkenden und engagierten jungen Bevölkerung – eigentlich ein riesiges Potential von 38 Mio. Menschen. Ich würde jedem mal empfehlen, Lviv, auch Lemberg genannt, zu besuchen – eine sehr nette Stadt im Westen der Ukraine und von Wien in etwa gleich weit entfernt wie Bregenz. Es macht für Menschen aber einen großen Unterschied, ob sie näher zu Lemberg oder Bregenz aufgewachsen sind. Diese politische Situation in der Ukraine hat mich nochmal mehr zu einem glühenden Anhänger des europäischen Gedankens gemacht – von Portugal bis Wladiwostok.

2015 im Juni sind wir dann nach Wien übersiedelt, wo sich meine Kinder zu Beginn gar nicht wohl gefühlt haben, aber es inzwischen wirklich genießen. Ich bin maßlos über das österreichische Schulsystem enttäuscht und habe noch mehr zu schätzen gelernt, wie das Paulinum eigentlich damals schon war. Und so schließt sich der Kreis.


Andreas Gschwenter, MJ 1987

 

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